Karlsruher Faustrecht Das Internetverbot der Zeitschrift "radikal" untergraebt den Gesetzentwurf fuer Informations- und Kommunikationsdienste Noch in diesem Jahr will der Deutsche Bundestag ein Gesetz verabschieden, das die bislang ungeklaerten Rechte und Pflichten von Internetprovidern regelt. Das Bonner Kabinett hat dem Entwurf zugestimmt, doch dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe ist das "Informations- und Kommunikationsdienstegesetz" (IuKDG) zu liberal. Es stellt im Artikel 1, Paragraph 5 ausdruecklich fest: "Diensteanbieter sind fuer fremde Inhalte, zu denen sie lediglich den Zugang zur Nutzung vermitteln, nicht verantwortlich." "Diensteanbieter" im Sinn des Gesetzes sind Unternehmen und Institutionen, die irgendeinen Zugang zum Internet zur Verfuegung stellen, Internetprovider, Onlinedienste mit eigenem Netz und Universitaeten. Traete der Paragraph in Kraft, waeren Staatsanwaelte wieder darauf verwiesen, Straftaeter zu ermitteln, statt sich an den Brieftraegern schadlos zu halten. Weil ihr das im Internet schwerfaellt, versucht die Bundesanwaltschaft zur Zeit auf eigene Faust Fakten zu schaffen. Anlass bot die Zeitschrift radikal, deren neuste Ausgabe nach Karlsruher Lehrmeinung unter anderem gegen die Strafrechtsparagraphen 129a und 130a verstoesst (Unterstuetzung einer terroristischen Vereinigung und Aufruf zur Gewalt). Anders als die amerikanischen Puritaner, die mit ihrem Zensurgesetz gegen das Internet in diesem Fruehjahr gescheitert sind, koennen die deutschen Terroristenjaeger einen gewissen Erfolg vermelden. Auf ihre Anweisung hin haben die Internetprovider, die dem Interessenverband "Electronic Commerce Forum" (eco) angeschlossen sind, den Zugang zu dem niederlaendischen Rechner "xs4all" gesperrt, der die Zeitschrift ins Netz stellt. Politisch unauffaellige, mittelstaendische Firmen stehen ploetzlich im Verdacht der Beihilfe zu den traditionellen Tatvorwuerfen gegen Linksradikale. Dabei hatte schon ihr Interessenverband, mehr noch aber seine ahnungsvoll ins Leben gerufene Hauspolizei gegen mutmasslich strafbare Post aus dem Cyberspace, die sogenannte Internet Content Task Force, bei alten Netzhasen den Verdacht Zensur geweckt. Heute fuehlen sie sich in ihren schlimmsten Befuerchtungen bestaetigt. Seit zwei Wochen kennt die Newsgroup "de.soc.zensur" nur noch ein Thema: Rechtsanwalt Michael Schneider, eco-Vorstandsmitglied und Miterfinder der Internet Content Task Force. "Ein Haufen aengstlicher Huehnchen" gehoert noch zu den milderen Ausdruecken, mit denen der Pruegelknabe beider Seiten hier bedacht wird. Mitarbeiter von eco- Providern versuchen sich zu rechtfertigen, aber auch sie koennen nicht leugnen, dass die Generalbundesanwaltschaft ("Weichbirnen") in Schneider eine dankbare Adresse gefunden hat, an der sie ihren Mut kuehlen kann. Die erste Aufforderung zur Blockade des radikal-Servers erreichte den Rechtsanwalt am 30. August. Ende letzter Woche liess die Bundesanwaltschaft durchblicken, sie habe nun die angedrohten Ermittlungen gegen diejenigen Provider aufgenommen, die der ersten Mahnung nicht gefolgt seien. Die wussten nur selbst nicht recht, was sie tun sollten, sowenig wie die Bundesanwaltschaft selbst. Schneider hatte zunaechst nur empfohlen, die numerische Adresse zu sperren, unter der die Netzcomputer den niederlaendischen Server bislang angewaehlt hatten. Irgendein Erfolg war damit nicht zu erzielen. Die niederlaendischen Netzprofis fuehrten ein System ein, das dem Namen "xs4all" in schneller und unregelmaessiger Folge immer neue Nummernadressen zuordnet. Damit blieb die radikal weiter verfuegbar. Die militaerische Herkunft des Internet schien sich zu bewaehren. Selbst die Sperrung einer ganzen Nummernklasse fuehrte nicht zum verlangten Ziel: die radikal kam auch durch diese Schranke. Der Generalbundesanwalt setzte nach. Per Fax verlangte er Ende letzter Woche wirksamere Massnahmen. Tatsaechlich ist xs4all von eco-Providern aus seither nicht mehr erreichbar, wenigstens nicht direkt. Es genuegt jedoch, den Umweg ueber den sogenannten Anonymizer (http://www. anonymizer .com) zu gehen. Dahinter steckt der Rechner einer privaten Firma in den USA, die sich mit Werbung finanziert. Er uebernimmt die Anfrage und liefert unter seinen eigenen Adresse die verlangten Dokumente zurueck - auch an eco-Kunden, deren Hausrechner nicht sofort herausfinden kann, was die aktuell angewaehlte Gegenstelle treibt. Welcher Trick heute den regulaeren Weg zu xs4all tatsaechlich abschneidet, will Schneider nicht verraten. Er moechte der Gegenseite keine Gelegenheit zu weiteren Eskalationen bieten. Der Streit ist zum Praezedenzfall geworden. Um die Zeitschrift radikal geht es schon lange nicht mehr. Sie ist inzwischen auf ueber dreissig anderen Internetrechnern, sogenannten Mirrors, jederzeit abrufbar. Den Schaden haben nicht die paar deutschen Linksradikalen, sondern der niederlaendische Rechnerbetreiber. Kunden wollen ihren Vertrag kuendigen. Einer von ihnen, schreibt xs4all, habe mit seinen wirtschaftlichen Interessen in Deutschland argumentiert, die es ihm nicht erlaubten, vom Internet abgeschnitten zu sein. Der Brief fordert Schneider auf, noch in dieser Woche oeffentlich zu erklaeren, dass die Blockade aufgehoben sei. Durchaus kompromissbereit bietet xs4all die radikal nicht mehr zur Onlinelektuere an. Die Zeitschrift ist in eine Archivdatei verpackt. Nach wie vor aber drohen die Niederlaender mit Schadensersatzklagen gegen Deutschland und den eco-Verband. Schneider glaubt, damit zumindest einen Punktsieg errungen zu haben. Er hofft, noch in dieser Woche die Rechnersperre wegen nachweislichen Misserfolgs wieder aufheben zu koennen. Nicht zuletzt die Aussicht auf internationale Schadensersatzklagen werde in Karlsruhe ihre Wirkung nicht verfehlen, hofft Schneider. Hausbesuche von Karlsruher Ermittlern hat bisher kein Provider erdulden muessen. Am allerwenigsten die Telekom und CompuServe. Der amerikanische Onlinedienst hat lediglich die Website der PDS-Vorstaendlerin Angela Marquard geloescht, die einen Link zur radikal enthielt - Schneider hat sie auf seinen Server uebernommen, (http://www.anwalt.de/ictf/mirror/ radilink.htm), allerdings ohne den radikal-Link "zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen", wie der Anwalt schreibt. Die umstrittene Adresse selbst hingegen ist ueber CompuServe unbehindert erreichbar. Auch der Sprecher von "T-Online versichert, dass die Telekom "keine einzige Webadresse" gesperrt habe. Aber Schneider weiss, dass die bislang auffaellig verschonte Konkurrenz mit Interesse auf den Ausgang der radikal-Affaere wartet. Nicht nur der Generalbundesanwalt hat ihn als Sparringspartner entdeckt. Letzte Woche ging ein Schreiben der Staatsanwaltschaft von Nordrhein-Westfalen in seiner Kanzlei ein. Es enthielt wieder die Aufforderung, einen Server zu sperren, diesmal wegen der Verbreitung von Kinderpornographie. Schneider nahm die Sache selbst in Augenschein und folgte der Anweisung. Nicht einmal den Puristen der Newsgroup de.soc.zensur war dieser Fall eine Debatte wert. Sie nahmen lediglich hoehnisch Schneiders schriftliche Aufforderung an den Rechnerbetreiber zur Kenntnis, die strafbaren Dinge zu entfernen. Natuerlich liegt bis heute keine Antwort vor, inzwischen ist der Server auch von Amerika aus nicht mehr erreichbar. Daher muessen selbst die Kunden von T-Online auf dieses Angebot verzichten, jedoch nicht, weil die Telekom Straftaten vereitelt hat: Bei T-Online ist von einer staatsanwaltlichen Anweisung, irgendeinen Pornoserver zu sperren, nichts bekannt. Niklaus Habluetzel niklaus@taz.de TAZ Nr. 5031 vom 19.09.1996 Seite 12 Internet 235 Zeilen TAZ-Bericht Niklaus Habluetzel c Contrapress media GmbH Vervielfaeltigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags Gelegenheit zu weiteren Eskalationen bieten. Der Streit ist zum Praezedenzfall geworden. Um die Zeitschrift radikal geht es schon lange nicht mehr. Sie ist inzwischen auf ueber dreissig anderen Internetrechnern, sogenannten Mirrors, jederzeit abrufbar.