Nulla Poena Sine Lege

Interview mit dem Strafrechtler Professor Dr. Ulrich Sieber

Von Lorenz Lorenz-Meyer

Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt gegen Unbekannt wegen der im Ausland erfolgten Bereitstellung der hierzulande verbotenen Ausgabe 154 der Autonomenzeitschrift Radikal im Internet. Gleichzeitig üben die Staatsanwälte Druck auf deutsche Internet-Service-Provider aus, den Zugang zu den betreffenden Webseiten zu sperren. Die Maßnahmen der Bundesanwaltschaft werfen nicht nur politische, sondern vor allem auch juristische Fragen auf. Um ein wenig Klarheit in die Angelegenheit zu bringen, haben wir uns mit dem Würzburger Strafrechtler und Experten für Computerkriminalität und Informationsstrafrecht Professor Dr. Ulrich Sieber unterhalten.

SPIEGEL Online: Herr Professor Sieber, Mitglieder der holländischen "Solidaritätsgruppe für politische Gefangene" (SPG) haben die bei uns verbotene Ausgabe 154 der Autonomenzeitschrift Radikal in den Niederlanden ins Internet gestellt. Machen sie sich damit nach deutschem Recht strafbar?

Sieber: Nach meiner Meinung, ja. Wenn die eingestellten Texte Tatbestände des deutschen Strafrechts erfüllen und mit dem Wissen der SPG auch in Deutschland zugänglich gemacht werden, dann spielt der Ort der Dateneinspeisung keine Rolle. Für die von der Generalbundesanwaltschaft genannten Delikte verlangt das deutsche Strafanwendungsrecht - das sogenannte internationale Strafrecht - zwar nach den Paragraphen 3 und 9 des Strafgesetzbuchs eine bestimmte Auswirkung der Tat auf dem deutschen Staatsgebiet. Diese Voraussetzungen sind aber meines Erachtens erfüllt, wenn die WWW-Seiten in Deutschland abrufbar sind und auch hier abgerufen werden sollen.

SPIEGEL Online: Und welche Konsequenzen hat das konkret? Reicht der Arm des deutschen Gesetzes auch über die Grenzen hinweg zu den europäischen Nachbarländern?

Sieber: Erst einmal stellt sich die Frage nach Rechtshilfe und Auslieferung. Das ist eine komplizierte Materie. Die Grundlage bilden das europäische Rechtshilfeübereinkommen und das europäische Auslieferungsabkommen mit den zugehörigen Protokollnotizen. Hinzu kommt das Schengener Abkommen mit seinen Durchführungsübereinkommen. Darüberhinaus muß noch die Existenz von bilateralen Abkommen geprüft werden. Im Grundsatz stehen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit selbst innerhalb Europas jedoch zwei Hinderungsgründe entgegen:

Zunächst setzen Rechtshilfe und Auslieferung nach den genannten Abkommen eine Strafbarkeit in beiden Ländern voraus. Nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen sind allerdings auch bestimmte Ordnungswidrigkeiten ausreichend. Wenn die Verbreitung der Texte aus Radikal in den Niederlanden weder strafbar noch ordnungswidrig ist, dann gibt es deswegen keine Rechtshilfe und keine Auslieferung.

Darüber hinaus nimmt die niederländische Protokollnotiz zum europäischen Auslieferungsabkommen Staatsbürger der Niederlande aus. Wir liefern keine Deutschen ans Ausland aus, die Holländer keine Holländer. Das ist ein zweiter Grund, weswegen eine Auslieferung scheitern würde.

SPIEGEL Online: Könnten denn die deutschen Behörden bei ihren niederländischen Kollegen beispielsweise eine Durchsuchung bei der SPG oder beim Provider erwirken?

Sieber: Durchsuchungen müßten im Wege der Rechtshilfe beantragt werden. Das bedeutet: Auch eine Durchsuchung setzt voraus, daß die Tat sowohl nach deutschem als auch nach niederländischem Recht strafbar oder ordnungswidrig ist. Diese Bedingung wäre nicht erfüllt, wenn das niederländische Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitsrecht die Radikal-Texte nicht erfaßt. Man= müßte sich deswegen zunächst einmal näher mit dem niederländischen Strafrecht beschäftigen.

SPIEGEL Online: Und wenn die Mitglieder der SPG nach Deutschland reisen - müssen sie dann gewärtigen, hier festgenommen zu werden?

Sieber: Ja. Wenn die Bereitstellung von Radikal unter deutsches Strafanwendungsrecht fällt, weil die WWW- Seiten hier abrufbar sind, dann gilt in der Tat: Sobald die verantwortlichen Mitglieder der SPG zufällig nach Deutschland kommen, dann kann man gegen sie vorgehen.

SPIEGEL Online: Wie verhält es sich mit dem holländischen Provider "xs4all", bei dem die SPG ihre Seiten untergebracht hat, und der sie trotz des ganzen Wirbels ganz bewußt mehrere Wochen stehen gelassen hat, mit der Begründung, daß diese Texte in den Niederlanden nicht verboten sind? Müssen auch die Verantwortlichen von "xs4all" mit Maßnahmen der deutschen Justiz rechnen?

Sieber: Das ist im Moment die offenste Frage. Für den Provider, der strafbares Material nicht nur weiterleitet, sondern es auf seinem eigenen Server dauerhaft zur Nutzung bereithält, ist die Rechtslage höchst unsicher. Das ist unabhängig davon, ob er sich in Deutschland oder im Ausland befindet. Es gibt gute Gründe zu argumentieren, daß er sich nicht strafbar macht. Das müßte man aber im Einzelfall erst genauer untersuchen.

SPIEGEL Online: Die Vorstellung, daß Felipe Rodriquez, Geschäftsführer von "xs4all", Anfang Oktober auf eine Vortragsreise nach Deutschland kommt und hier festgenommen wird, liegt also im Bereich des Möglichen?

Sieber: Er müßte nach den bisherigen Verlautbarungen der Bundesanwaltschaft mit Ermittlungsmaßnahmen rechnen. Bei der Prüfung eines Haftbefehls und der Anordnung von Untersuchungshaft wäre allerdings der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen. Ob der Sachverhalt für eine Festnahme reicht, kann man aufgrund der bisher bekannten Umstände noch nicht sagen.

SPIEGEL Online: Kommen wir zu den deutschen Internet-Service-Providern. Die sind ja von der Bundesanwaltschaft unter erheblichen Druck gesetzt worden, den Zugang zu dem Radikal-Angebot zu blockieren. Sind sie wirklich in Gefahr, sich strafbar zu machen, wenn sie dieser Aufforderung nicht nachkommen?

Sieber: Hier liegt die Angelegenheit meines Erachtens klarer: Ein Provider, der strafbares Material nur durchleitet, also nur Gateway- und Carrier-Funktion hat, ist aufgrund meiner Rechtsauffassung nach deutschem Recht straflos. Es ist die gleiche Situation wie bei den Newsgroups. Dem Provider kann nicht ein aktives Tun vorgeworfen werden. Der macht ja nichts, sondern unterläßt es lediglich, den Zugang zu sperren. Und wenn man für ein Unterlassen bestraft werden soll, dann ist die Voraussetzung dafür eine gesetzliche Garantenpflicht, wie sie zum Beispiel Eltern gegenüber ihren Kindern oder Lehrer gegenüber ihren Schülern haben. Auch für Sicherheitspersonal, das bestimmte Gefahrenquellen zu überwachen hat, besteht eine Garantenpflicht. Aber für einen Internet- Service-Provider, der lediglich den Zugang zur Nutzung von Inhalten vermittelt, ist eine solche Garantenpflicht meines Erachtens nicht gegeben, selbst wenn er weiß, was passiert. Ich habe dies in einer ausführlichen Studie dargelegt, die Sie in der Juristenzeitung (Hefte 9-10/1996) und im Internet finden. Diese Auffassung ist allerdings gerichtlich nicht endgültig geklärt. Einzelne Staatsanwaltschaften in Deutschland werden da möglicherweise eine andere Auffassung vertreten. Das muß dann das zuständige Gericht und letztlich der Bundesgerichtshof entscheiden.

SPIEGEL Online: Die Bundesanwaltschaft stellt sich auf den Standpunkt: Wenn man die Provider nur auf die Strafbarkeit von Inhalten aufmerksam macht, dann sind sie auch verpflichtet, für eine Sperrung dieser Inhalte zu sorgen.

Wenn man sich dagegen den 5 des im Entwurfsstadium befindlichen Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes anschaut, der ja für diese Thematik einschlägig sein wird, so fällt auf, daß es dort neben der Kenntnisklausel auch noch eine Zumutbarkeitsklausel gibt. Im Referentenentwurf vom 28. Juni 1996 heißt es wörtlich: "Diensteanbieter sind für fremde Inhalte, die sie zur Nutzung bereithalten, nur dann verantwortlich, wenn sie von diesen Inhalten Kenntnis haben und es ihnen möglich und zumutbar ist, deren Nutzung zu verhindern." Noch deutlicher ist die dazugehörige Begründung. Dort heißt es, der Diensteanbieter habe "selbst eine Verantwortung zu tragen, wenn ihm der einzelne, konkrete Inhalt positiv bekannt ist und wenn er technisch in der Lage ist, diesen einzelnen Inhalt derart zu sperren, daß eine Nutzung in seinem Dienst verhindert wird." Weiter wird darauf hingewiesen, "daß hier nicht jeder denkbare Aufwand gemeint ist, sondern daß die Bedeutung des Einzelfalls und der Aufwand sowie die Auswirkung auf andere Teile des Dienstes im Verhältnis zueinander gesehen werden müssen."

Diese Überlegungen, die hier in die kommende Gesetzgebung einfließen, scheinen im Moment noch keine Handlungsgrundlage für die Staatsanwälte zu sein. Ist das richtig?

Sieber: Ja. Der Gesetzentwurf ist natürlich noch nicht anwendbar. Die Zumutbarkeit einer verlangten Handlung und die Existenz eines Vorsatzes sind jedoch schon aufgrund allgemeiner strafrechtlicher Grundsätze erforderlich. Aber nach meiner Rechtsauffassung kommt es auf diese Fragen der Zumutbarkeit und der Kenntnis bei dem Provider, der nur Carrier- und Gateway-Funktion hat, gar nicht an. Selbst wenn er die strafbaren Inhalte kennt und sie sperren könnte, kann man die Sperrung zwar nach moralischen Grundsätzen verlangen, aber nicht strafrechtlich erzwingen. Artikel 103 des deutschen Grundgesetzes garantiert den Grundsatz "nulla poena sine lege" - Keine Strafe ohne Gesetz. Das heißt: Um jemanden bestrafen zu können, reicht es nicht aus, daß wir sein Verhalten mißbilligen oder für eine große 'Schweinerei' halten. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem die Strafbarkeit eine gesetzliche Grundlage verlangt, die das Parlament verabschiedet hat. Und das Gesetz sieht zur Zeit einfach keine Handlungspflicht für diesen Service-Provider vor. Und allein aus allgemeinen Grundsätzen läßt sich eine solche Handlungspflicht nach meiner Meinung auch nicht herleiten.

SPIEGEL Online: In der Diskussion ist wiederholt eine Parallele gezogen worden zwischen dem Internet und dem Telefonnetz. Es wird argumentiert: "xs4all" unterhält selbst telefonische Einwahlknoten, wir könnten uns jederzeit über das Telefonnetz die problematischen Daten direkt aus den Niederlanden holen. Müßte nicht die Bundesanwaltschaft in Analogie zu den Maßnahmen bei den deutschen Internet- Service-Providern auch bei der Deutschen Telekom vorstellig werden und sie auffordern, ihre Telefonverbindungen zu "xs4all" auf die gleiche Weise zu sperren, wie es die Internet- Service-Provider mit den Web-Adressen tun sollen?

Sieber: Ich gehe davon aus, daß die Telefongesellschaften für das, was über ihre Leitungen läuft, ebenso wenig strafbar sind, wie die Internet-Provider oder die Lufthansa, wenn sie Sextouristen nach Thailand transportiert. Ihr Fall der Deutschen Telekom stützt daher die Argumentation, daß sich auch der Carrier im Internet nicht strafbar macht. Wenn man sich dieser Meinung anschließt, kommt man dogmatisch zu einem stimmigen Konzept. Wenn man hingegen der Gegenauffassung folgt, muß man sich die Fragen stellen: Ist die Rechtslage beim Telefon anders? Und warum soll sie anders sein?

Natürlich gibt es Unterschiede: Das Telefon ist mehr Individualkommunikation, das WWW mehr öffentliche Kommunikation; die Kommunikation über das Telefon ist flüchtiger, der Informationsaustausch im Web ist stärker verkörpert. Aber es stellt sich eben die Frage, ob diese Unterschiede juristisch das unterschiedliche Ergebnis tragen.

Wenn man den Vergleich zwischen dem WWW und dem klassischen Telefon unbedingt machen möchte, würde ich ihn nicht zur Individualkommunikation über Telefon ziehen, sondern zu den öffentlichen Telefon-Sex-Diensten. Wenn man eine= Sperrpflicht der Carrier im Internet bejahen würde, dann müßte man in der Tat auch eine entsprechende Pflicht der Telekom annehmen, hier bestimmte Inhalte zu sperren. Die Telekom müßte vor allem auch verhindern, daß Kinder dort anrufen. Denn bei Kindern geht es ja schon um den Schutz vor weicher Pornographie. Und die existiert in diesen Diensten sicher, das weiß auch Telekom-Chef Ron Sommer. Mit= mangelndem Vorsatz könnte er sich da nicht herausreden. Man müßte dann konsequent auch gegen die Verantwortlichen der Telekom vorgehen, so wie das die Schweizer Strafgerichte mit ihrem zuständigen PTT-Direktor gemacht haben.

SPIEGEL Online: Das heißt also: Mal vorausgesetzt, daß die Forderung an die Internet-Service-Provider rechtens ist, wäre auch eine Forderung an die Deutsche Telekom rechtens, den Zugang zu solchen Ansagediensten zu sperren?

Sieber: Ja. Es sei denn, man ließe sich etwas einfallen, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Aber ich sehe hier keine Möglichkeiten.

Aus diesem Grunde sollte man das Vorgehen gegen die Carrier und Gateways unterlassen, wie dies auch das neue Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz ausdrücklich vorsieht.

Mit dem Vorgehen gegen die Service-Provider kann man in der Sache auch nichts ausrichten, sondern nur dem Industriestandort Deutschland schaden.

Wenn man wirklich etwas erreichen will, muß man sich auf internationale Mindeststandards einigen und diese dann gegen die Urheber strafbarer Äußerungen wirksam durchsetzen. Darüberhinaus sollte man ein Selbstkontrollgremium der Wirtschaft schaffen, wie wir es zum Beispiel bei der FSK in der Filmwirtschaft und beim Presserat haben. Das vorliegende Problem erfordert kreative Lösungen. Es ist nicht damit zu beheben, daß man die am leichtesten greifbaren Provider unter Druck setzt.

SPIEGEL Online: Herr Professor Sieber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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