Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!

Stellen Sie sich vor, Sie wären Chef der Telefongesellschaft in einem kleinen Land, in dem man stolz ist auf seine liberale Tradition und seinen Bürgersinn.

Stellen Sie sich weiter vor, Sie erfahren aus der Presse, daß die Justiz in einem großen Nachbarland, das nicht für seine liberale Tradition bekannt ist, gegen Sie ermittelt.

Der Grund: In einer der größten Städte Ihres Landes läuft ein telefonischer Ansagedienst, auf dem Texte abgespielt werden, die man im Nachbarland, aber nicht in Ihrem Land, für ein Verbrechen hält und daher verboten hat.

Und die Justizbehörden des großen Nachbarlandes verlangen außerdem von der dortigen Telefongesellschaft bei Strafandrohung, den Telefonanschluß mit dem Ansagedienst zu sperren. Da es technisch nicht anders geht, sperren die Techniker den Zugang zum gesamten Ortsnetz der betroffenen Stadt.

So was kommt vor. Das kleine Land sind die Niederlande, das große ist Deutschland, nur das Medium ist nicht das Telefon, sondern das Internet, und statt des Ansagedienstes geht es um sein moderneres Äquivalent, den Website.

Die deutsche Bundesanwaltschaft ermittelt gegen "xs4all" (lies: Access for all - Zugang für alle), einen der größten niederländischen Internet-Service-Provider, weil einer der Kunden von "xs4all" auf den Rechnern des Unternehmens die dümmliche deutsche Autonomengazette Radikal ins Internet gestellt hat, die hierzulande verboten ist - bei "xs4all" ist sie nur ein Angebot unter tausenden.

Felipe Rodriguez, ins Fadenkreuz übereifriger deutscher Staatsanwälte geratener Geschäftsführer von "xs4all", kann sich damit trösten, daß er wahrscheinlich demnächst in guter Gesellschaft sein wird: Auf über 30 Servern weltweit haben einzelne Benutzer das Radikal-Angebot zur Zeit bereits aus Protest gegen die deutschen Maßnahmen gespiegelt, in Japan, Finnland, Italien, Dänemark, Großbritannien, Belgien, den USA. Mit von der Partie sind so ehrwürdige Adressen wie die amerikanische Ivy-League-Universität Yale, die großartige "Digitale Stad Amsterdam" oder der Hort der amerikanischen Internet-Intelligentsia "The WELL".

Den deutschen Service-Providern wurde die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder sie sperren den Zugang zu den inkriminierten Radikal-Adressen, oder sie riskieren eine Strafverfolgung wegen Mittäterschaft. Wenn auch die Mirrorsites mit in das Paket aufgenommen werden, ist das Internet hierzulande bald so interessant wie Privatfernsehen am Vormittag. Deutschland im Herbst, wieder einmal.

Um "Access for all" in einem ganz anderen Sinne geht es in dem Bericht Surfen ohne Handicap. Computer und ihre Netzwerke werden mehr und mehr zum leistungsfähigen und gefragten Hilfsmittel für Behinderte und ermöglichen Ihnen ein reicheres Berufs- und Sozialleben. Nicola Dickmann erklärt, wie es dazu kommt.

Immer noch und immer wieder im Gerede: Compuserve. Nach der Kündigung von 14 kritischen Mitgliedern im August läßt der Online-Dienst aus Ohio auch die Radikal-Affäre nicht vorüberziehen, ohne weiter an seinem Image zu schmieden: Ohne Not wurde die WWW-Seite der PDS-Vizechefin Angela Marquardt gesperrt, die nebst einigen distanzierenden Vorbemerkungen einen Verweis auf das Radikal-Angebot von "xs4all" enthielt. Nicht den Text selbst wohlgemerkt, nur ein Link darauf.

Wenn Sie angesichts soviel beinharter Realität den Wunsch verspüren, ins Märchen zu fliehen, sollten Sie sich von Thomas Feibel mitnehmen lassen in die Welt der CD-Rom "Das Buch von Lulu" - in eine Welt, in der ein Roboter und eine Prinzessin miteinander auf Reisen gehen. Erstmalig gibt es dazu bei uns Videosequenzen im Quicktime-Format, und als besonderes Bonbon ein Interview mit Martin Walser und seiner Tochter Alissa, die "Lulu" aus dem Französischen ins Deutsche übertrugen.

Herzlich,

Ihr

Lorenz Lorenz-Meyer.